Von der Verbreitung des Bernsteins und dessen Verehrung durch die Bewohner der Ostseeküste Litauens und des Samlandes zeugen 6000 Jahre alte Traditionen. Die ältesten Bernsteinerzeugnisse an der litauischen Küste datieren aus dem Neolithikum (4000 bis 1600 v. Chr.). Bernsteinschmuck (Anhänger, Ketten, Broschen, Amulette) und andere Erzeugnisse wurden an der Ostseeküste dort entdeckt, wo ehemals dicht bevölkerte Orte existierten: auf der Kurischen Nehrung, in Palanga, in Šventoji, in Preußen.

Der größte archäologische Bernsteinfund der Welt wurde in den Jahren 1860 bis 1881 bei der Bernstein-gewinnung in Juodkrantė gemacht. Dort wurden einzigartige Bernsteinartefakte aus dem Neolithikum (3000 v. Chr.) zu Tage gefördert, für die sich Wissenschaftler aus aller Welt interessierten. Gemeint ist der berühmte, von Richard Klebs 1882 zusammengestellte und beschriebene Schwarzorter Schatz. In dieser Sammlung finden sich neben Rohbernstein 434 Bernsteinerzeugnisse (verschiedenförmige lange und dünne, regelmäßig und unregelmäßig bearbeitete, fast rechteckige und ovale Anhänger). Darunter gibt es auch verschiedene Knöpfe: kleine runde und ovale bis 4,5 cm lange, große, schiffsförmige, mit glatter oder gepunkteter Oberfläche, außerdem verschiedene röhrenförmige Ketten: mit retuschierter Oberfläche und ganz abgeschliffen, mit geraden und nur ein wenig gewölbten Seiten. Auch Gliederteile und Rollen sind aus der Sammlung bekannt. Besonders wertvoll sind Werke der Plastik aus dem Neolithikum, Figuren in der Form von Menschen oder Tieren. Alle diese Stücke sind ausführlich in dem Werk „Die Bernsteinschmuckstücke aus der Steinzeit“ (1882) von Richard Klebs beschrieben.

Graf Feliksas Vinokentijus Tiškevičius versuchte, Bernstein aus dem Sumpf in der Nähe von Palanga zu fördern. Zwar wurden hier nur einige Hundert Kilo Rohbernstein gefunden, aber darunter befanden sich sehr viele archäologische Zeugnisse, die heute als Schatz von Palanga gelten. Ähnlich wie die Erzeugnisse aus dem Schwarzortschatz sind manche Amulette mit Punkten, Streifen und Löchern verziert. Eine Plastik aus dem Schatz stellt schematisch einen Menschen dar. In der Figur zu erkennen sind zwei Beine (eines ist abgebrochen) und die Taille. Durch den oberen Teil des Körpers, den Kopf, ist ein Loch gebohrt. Das zeugt davon, dass diese Figur als Amulett getragen wurde. Dieser Talisman sowie weitere Anhänger in Form eines Schildes, Knöpfe mit einem v-förmigen Loch, Zylinder und Ketten datieren aus dem Neolithikum. Andere Einzelteile dieses Schatzes sind Rollen-Ketten, Rollen-Spindeln, von denen ein großer Teil der Anhänger in der Bronzezeit oder sogar in der Eisenzeit geschaffen wurden.

Ein ähnlicher Schatz von Rohbernstein und Bernsteinartefakten wurde auch während der Grabungen in der Nähe von Šventoji entdeckt. Die zwanzig Jahre dauernden Arbeiten wurden von Dr. Rimute Rimantiene durchgeführt. Hier wurde der Schatz von Šventoji geborgen, der weitere Informationen über die Kultur der damaligen Anwohner der Ostseeküste gab. Um 4000 v. Chr. wurden Bernsteinschmuckstücke von den Völkern der Narva-Kultur getragen. Sie stellten Anhänger, Knöpfe, Figuren und röhrenförmige Ketten her. In dieser Zeit wurden mehrfarbige Bernsteinstücke nicht hoch geschätzt. Eine große Menge solcher Stücke mit abgebrochenen Kanten wurde in einem Abfallhaufen gefunden. Die Menschen dieser Zeit liebten einfarbige Bernsteinstücke, Bernstein in der Farbe des Honigs. 3000 v. Chr. wurde auf dem Gebiet des heutigen Litauen begonnen, Bernsteinwerkstätten zu errichten. Eine solche Werkstatt befand sich im Ort Šventoji. Dort wurden Anhänger und Knöpfe für die Menschen im Norden hergestellt, im heutigen Estland, Finnland und Norwegen. Die interessantesten Erzeugnisse schufen die Handwerker für sich selbst. Das waren nicht nur Schmuckstücke. Darüber, welchem Zweck die Figuren in Menschen- und Tiergestalt dienten, machen die heutigen Wissenschaftler sich viele Gedanken. Man vermutet, dass solche Figuren für die damaligen Fischer und Jäger die Behüter des Lebens oder Götter symbolisierten. Unter anderem bildet eine Statue der Žemaičiai Kultstätte einen Mast nach, der bei den archäologischen Untersuchungen in Šventoji gefunden wurde. Der Mast ist 5000 Jahre alt und zwei Meter hoch. Er trug eine Maske, die an eine Eule erinnerte. Die Maske war flach, mit kräftigem Schnabel, dicken Augenbrauen, aber ohne Mund.

Auf der Kurischen Nehrung, vier Kilometer nördlich von Perwelk, wurde einRohbernsteinschatz aus der Bronzezeit entdeckt. Er besteht aus dreizehn relativ großen Bernsteinen, die zusammen ca. 600 Gramm wiegen. Sie sind deutlich leichter als am Strand gefundene Bernsteine ähnlicher Größe. Vermutlich hat das seinen Grund darin, dass diese Steine für längere Zeit auf dem Dünensand gelegen haben, in der Sonne oxidierten und dadurch schwammig wurden. In der Nähe der Fundstelle wurden auch Schnurkeramikerzeugnisse, zierliche Teile aus Titan und Kohlereste eines verbrannten Baumes gefunden. Man vermutet, dass dieser Schatz aus der Zeit von 1800 bis 1600 v. Chr. stammt. Die bescheidenen Funde von Rohbernstein und Bernsteinartefakten aus dem Neolithikum und aus der Bronzezeit zeugen davon, dass die Anwohner dieser Zeit den Bernstein hauptsächlich als Schmuckstück verwendeten. Andere Menschen in dieser Gegend schrieben dem Bernstein auch magische Kräfte zu und trugen ihn als Amulett.

Bernstein in der Steinzeit

 

R. Rimantienė, Doktorin der Geschichte

Bernstein führende Schichten gibt es an mehreren Plätzen der Ostsee, aber sie sind tief in der Erde verborgen. Unsere Vorfahren  erfuhren  vom Bernstein  erst  dann,  als  die Natur ihre Geheimnisse preisgab. Nachdem Bernsteinschichten in Schleswig-Holstein freigespült worden waren, sammelten die Menschen schon in der Mittelsteinzeit (Mesolithikum) Bernstein und bearbeiteten ihn. Die Vorräte waren aber nicht groß. In der Jungsteinzeit (Neolithikun) wurden Bernstein führende Schichten im Samland freigespült. Wenn das Meeresniveau niedrig war, wurden die Schichten vom Wasser nicht berührt. Nachdem das Klima wärmer und feuchter geworden war, stieg das Niveau des Meeres rasch (Phase der Litorinasee im baltischen Einzugsgebiet) und das Wasser begann, Bernsteinschichten freizuspülen. Der leichte, schwimmende Bernstein wurde vom Wasser die Küsten entlang getragen und an seichten Stellen abgelagert. Die an den Strand gespülten Bernsteine wurden von den Menschen, die in der Steinzeit an unseren Küsten lebten, gesammelt.

Die Menschen waren damals daran gewöhnt, verschiedenartige Schmuckstücke aus dem herzustellen, was die Natur anbot: Zähne der Tiere, Knochen und die Plättchen der Vögel, flache Steine, Schalen u. ä. So fingen sie an, auch Bernstein für die Herstellung von Schmuckstücken zu verwenden.

Die Einwohner der Narva-Kultur trugen Bernsteinschmuckstücke in Litauen schon um 4000 v. Chr.. Wenn man in einen Bernstein ein Loch bohrt, wird daraus ein Anhänger. Bernsteinanhänger waren schöner als die Anhänger aus Knochen oder Stein. Außerdem war es viel einfacher, Bernstein zu bearbeiten. Sie wollten Schmuckstücke aus Bernstein herstellen, wie sie sie aus anderen Materialien gemacht hatten. Sie liebten röhrenförmige Ketten, wie sie sie früher aus den Knochen der Vögel angefertigt hatten. Obwohl die Naturformen des Bernsteins dafür nicht geeignet waren, stellten sie röhrenförmige Bernsteinketten her. Sie schnitzten Knöpfe und Figuren aus Bernstein. Bernstein zu bearbeiten, war viel einfacher, als Horn, Knochen oder Feuerstein zu schnitzen.

In den Siedlungen der Steinzeit findet man oftmals zusammen mit Bernsteinerzeugnissen Splitter und Stücke mit abgebrochenen Kanten, die als Abfall weggeworfen worden waren. In dieser Zeit waren mehrfarbige Bernsteinstücke nicht geschätzt. Die Menschen dieser Epoche liebten einfarbige Bernsteinstücke, die die Farbe des Honigs hatten.

Um 4000 v. Chr. wohnten die Fischer und Jäger in eng umschlossenen Gemeinwesen. Sie stellten nur recht einfachen Bernsteinschmuck für den Eigenbedarf her, so dass es für die Archäologen später nicht viel zu finden gab.

Zu Beginn des 3. Jahrtausends v. Chr. begannen finno-ugrische Völker die Ostseeküste zu besuchen und verbreiteten die Nachricht über den Bernstein in den Ländern des Nordens. So wurden Tauschwaren aus Bernstein in Estland, Finnland, im Gebiet von Nowgorod u. s. w. gefunden.

Um 3000 v. Chr. wurden die ersten Bernsteinwerkstätten gebaut (z. B. die 23. Siedlung Šventoji in Litauen oder die Siedlung in Lettland in der Nähe des Lubanas-Sees). In diesen Werkstätten wurden recht ähnliche Anhänger und Knöpfe für die Menschen im Norden hergestellt. Die interessantesten Erzeugnisse, die wir auch im Schwarzorter Schatz sehen, schufen die Menschen für sich selbst. Das waren nicht nur Schmuckstücke. Menschen- und, seltener, Tierfiguren wurden nicht als Schmuckstücke verwendet. Ihre genaue Bedeutung wird für ewig ein Geheimnis bleiben. Bei der Überlegung, was diese Figuren für die Menschen dieser Zeit bedeuten haben, dürfen wir ihre Lebensweisen nicht außer Acht lassen. Sie hilft, die Mentalität der Fischer und Jäger zu verstehen. Wahrscheinlich stellten die Menschen- und Tierfiguren die Beschützer dieser Zeit, eine Art Weltherren, dar. Die Menschen benutzten sie als Amulette. Es kann sein, dass diese Götter weiblich waren, denn manchmal sind feminine Merkmale zu erkennen: das feminine Dreieck oder ein Zopf. Andererseits könnten es auch geschlechtslose Wesen gewesen sein.

Mitte des 3. Jahrtausends begannen auch die Nachbarn aus dem Süden, sich für Bernstein zu inter-essieren. Sie waren Menschen, die auf einer höheren Kulturstufe standen: Sie betrieben bereits Ackerbau und Viehzucht. Von ihnen lernten unsere Fischer, Vieh zu züchten und Getreide anzubauen. Ihr Weltbild änderte sich nun, es wurde abstrakter. Die Menschen lernten neue Formen des Ausdrucks ihres Weltbildes und neue Symbole kennen. Die Nachbarn aus dem Süden waren mit den primitiven Schmuckstücken aus dem Norden nicht zufrieden. Runde Scheiben mit Punkten symbolisierten die Welt. Anhänger in der Form eines Trapezes mit ein paar Streifen aus Punkten stellten das Abbild des Menschen dar. Es wurde nun begonnen, runde und viereckige Knöpfe herzustellen. Die röhrenförmigen Ketten wurden in der Mitte verdickt.

Die Entwicklung des Bernsteinschmucks spiegelt also die Entwicklung eines Weltbildes und der Verhältnisse mit den Nachbarn wider. Sie wird uns später weitere Geheimnisse verraten.

Die Anwohner der Ostseeküste schmückten sich im späten Neolithikum mit sehr schönen Bernstein-anhängern. Da sie jedoch den Bernstein auch als magisch-religiöses Material betrachteten, trugen sie oft unbearbeitete Bernsteinstücke mit einem Loch. In dieser Zeit konzentrierte sich das Zentrum der Bernsteinbearbeitung und des Handels an den Küsten Polens. Aber auch in dem Schwarzorter Schatz kann man Bernsteinprodukte aus dieser Epoche finden.

Da stellt sich die Frage, wie ist es passieren konnte, dass an demselben Platz Erzeugnisse aus verschiedenen Zeiträumen und aus verschiedenen Kulturen versammelt sind. Es wurde behauptet, dass diese Erzeugnisse zusammen mit Rohbernstein aus den samländischen Siedlungen der Steinzeit hierher gespült worden waren. Es ist allerdings sehr zweifelhaft, dass Erzeugnisse aus verschiedenen Zeiträumen zu derselben Stelle gespült wurden. Sollten wir nicht vielleicht eine andere Version favorisieren? Gab es hier vielleicht einen langfristigen Opferungsort? Es ist bekannt, dass Opferungsorte für lange Zeit an derselben Stelle blieben und dass außerdem in der Steinzeit die Opfer im Wasser dargebracht wurden. Brandopfer sind erst mit dem Einzug der Landwirtschaft nachzuweisen. Eine derartige Theorie könnte natürlich ebenso stimmen.

Aber auch ohne viele historischen Erklärungen werden diese Erzeugnisse uns entzücken. Heutzutage bewundern wir diese 5000 Jahre alten Kunstwerke.